Einfach anders

Lieber Solidaritätskreis,

dieser Rundbrief kommt sehr viel später als geplant. Eigentlich ist er schon seit mehr als einem Monat fast fertig, liegt seitdem jedoch herum, weil immer wieder etwas dazwischen gekommen ist. Nun ist er jedoch endlich fertig.

In diesem Rundbrief will ich euch ein einige Geschichten erzählen. Sie handeln unter anderem von Straßen, Tischen und Familien. Vor allem aber handeln sie von einem Leben, das so ganz anders ist, als das, das ich aus Deutschland kenne. Aber lest selbst.

Semana Santa (Karwoche)

Üppiges Grün in den Hügeln von Ceará

Über Ostern war ich mit meiner Gastfamilie bei der Familie der Freundin meines Gastbruders zu Besuch. Sie leben im Nachbarbundesstaat Ceará und ihr Städtchen Palmácia liegt in der Serra, also in den Bergen. Die Landschaft hat mich an zuhause erinnert, bloß waren die Berge oder Hügel, wie man es nennen will, viel höher. Das hat man deutlich an den Temperaturen gemerkt, die vor allem nachts, aber auch tagsüber sehr viel niedriger waren, als ich es von Piripiri gewohnt bin. Bis zu 20°C ging es runter und ich bin wohl schon sehr an die Hitze gewöhnt, denn ich habe richtig gefröstelt. Ich konnte sogar meinen langen Pulli anziehen, den ich aus Deutschland mitgenommen und bis jetzt so gut wie nicht gebraucht habe. Aber es war schön, mal ein paar Tage lang überhaupt nicht zu schwitzen. Auch ansonsten gab es viel, was mir gut gefallen hat. Die Landschaft zum Beispiel fand ich wunderschön, unglaublich grün und mit üppiger Vegetation.

 

 

Stellenweise schlossen sich die Bäume über der Straße fast zu einem Tunnel zusammen und erinnerten mich an die Wälder zuhause. Ein anderes Mal fuhren wir über eine Landstraße, die zu beiden Seiten von so hohem Gras gesäumt war, dass ich nur noch bis zur nächsten Kurve sehen konnte. Damit unterscheidet sich diese Region sehr von der Landschaft Piauís, die von Trockenheit und Hitze geprägt ist. Die Vegetation Piauís ist karger und dürrer und obwohl auch hier seit Beginn der Regenzeit Mitte Dezember alles grüner und üppiger geworden ist, gibt es dennoch einen deutlichen Unterschied zu den verschwenderisch bewachsenen Serras von Ceará.

Von Straßen und Wegen

Das Städtchen Palmácia war ebenfalls ganz anders als Piripiri und die anderen Städte Piauís, die ich kenne. Piripiri ist fast komplett flach, nur im nördlichen Teil der Stadt steigt das Gelände sanft an. Palmácia jedoch ist eine richtige Bergstadt. Die meisten Straßen führen steil bergauf und bergab, eine ungewohnte Erfahrung für meine Gastfamilie. Auch ein Besuch in der Nachbarstadt Pacoti brachte ungewohnte Straßenführung mit sich. Auf der Landstraße zwischen den beiden Orten, die durch den Wald und die Serra führt, reiht sich Kurve an Kurve. Laut den Leuten dort sollen 365 Kurven auf der Strecke liegen, die Luftlinie nur etwa 20 km beträgt. Allerdings haben meine Gastfamilie und ich die starke Vermutung, dass diese Zahl erfunden ist und in Wirklichkeit einfach nie jemand nachgezählt hat. Fakt ist jedoch, dass wir auf der halbstündigen Fahrt keine hundert Meter am Stück geradeaus gefahren sind, sondern uns von einer Kurve in die andere gelegt haben. So lange, bis nicht nur meinem Gastbruder, der sowas ja nicht gewohnt ist, schlecht geworden ist, sondern auch fast mir, obwohl mir kurvige Landstraßen ja nicht unbekannt sind.

Eine weitere Geschichte gibt es von einer anderen Sorte Straßen zu erzählen. Nämlich von denen, über die wir überhaupt erst nach Palmácia gekommen sind. Wollte man die brasilianischen „estradas“ in deutschen Maßstäben erklären, würde man sie wohl am ehesten als Mischung aus Landstraße und Autobahn beschreiben. Sie verbinden die Städte und verlaufen dabei manchmal über beträchtliche Entfernungen, ohne irgendeine Siedlung zu passieren. Meist jedoch befinden sich zwischen zwei größeren Städten einige kleine Ansiedlungen, nicht mehr als ein paar Häuser auf beiden Seiten der Straße. Um zu verhindern, dass die Fahrzeuge dort einfach durchrasen, wird, wie auch häufig innerhalb der Städte, mit Bremsschwellen für eine Geschwindigkeitsreduzierung gesorgt. Das kann durchaus gefährlich für die Unversehrtheit des Autos werden, wenn man etwa im Dunkeln die Hinweisschilder übersieht und nicht ausreichend abbremst, bevor man darüber fährt. Schließlich handelt es sich um eine Straße, auf der man normalerweise zwischen 80 und 120 km/h fährt. Für uns hat sich in Bezug darauf noch eine ganz andere Schwierigkeit ergeben. Das Auto, mit dem wir gefahren sind, liegt sehr tief, ist ziemlich lang und hat noch dazu eine Anhängekupplung hinten dran. Und die Bremsschwellen haben manchmal eine geradezu absurde Höhe. Und so ist es mit unschöner Häufigkeit vorgekommen, dass wir mit der Anhängekupplung hinten aufgeschlagen sind, wenn wir so eine Schwelle überfahren haben. Ich muss ehrlich zugeben,  ich habe davon schon fast so eine Art Trauma davongetragen und bin sehr froh, dass wir hier in Piripiri kaum Bremsschwellen haben.

Weitere nicht ganz ungefährliche Verkehrsbehinderungen entstehen durch Witterung und intensive Befahrung der Straßen: Unmengen an Schlaglöchern. Auf den meisten Strecken hier kommen sie nur vereinzelt vor, manchmal habe ich auch schon Abschnitte ganz ohne gesehen, aber auf dem Weg nach Palmácia sind wir auf einer Straße gefahren, die so voller Schlaglöcher war, dass es nicht mehr die geringste Möglichkeit gab, ihnen irgendwie auszuweichen. So schlimm sah dieser Abschnitt aus, dass die Bewohner der umliegenden Orte anscheinend beschlossen haben, selbst Abhilfe zu schaffen, denn beim Durchfahren sahen wir Leute, die die Löcher mit Sand und Erde zuschaufelten. Leider wird ihre Mühe nicht lange anhalten, denn jetzt in der Regenzeit entwickeln die vom Himmel kommenden Wassermassen solche Kräfte, dass sie sogar gelockerte Pflastersteine mit sich reißen, ganz zu schweigen von loser Erde. Um das Problem zu beseitigen, müsste der Belag erneuert werden. Warum das nicht geschieht, beziehungsweise überhaupt erst so viele Schlaglöcher entstehen können, hat mir meine Gastfamilie erklärt: Korruption ist dafür verantwortlich. Politiker beantragen Gelder für Straßenarbeiten und vergeben den Auftrag an eine Baufirma. Mit der handeln sie dann aber aus, Material von geringerer Qualität als angegeben zu verwenden, damit sie sich das dadurch gesparte Geld selbst in die Tasche stecken können. Deshalb sind die Straßen nach kurzer Zeit voller Schlaglöcher. Einer Reparatur steht dann im Wege, dass das angeblich verwendete hochwertige Material ja noch lange nicht zerschlissen sein sollte und deshalb keine neuen Gelder für diesen Straßenabschnitt beantragt werden können. Auf dem langen Weg durch Ceará konnte ich gut beobachten, wo dieses Vorgehen der Fall war und wo das Geld tatsächlich in die Straße geflossen ist.

Der Tisch

Ferienhaus unserer Gastgeber in Palmácia-Ceará

Nach achtstündiger Fahrt sind wir aber doch endlich angekommen und konnten uns erstmals in Palmácia umsehen. Das Haus unserer Bekannten liegt direkt am zentralen Platz des Ortes, an den außerdem die Hauptkirche (Igreja Matriz) und der Fernbusbahnhof grenzen. Dadurch fühlte ich mich im Herzen der Stadt, die für mich fast Dorfcharakter hatte. Vielleicht kam das auch daher, dass unsere Gastgeber durch ihr Engagement in der lokalen Politik nicht nur jeden kennen, sondern auch ständig Besucher in ihrem Haus ein- und ausgehen.

Dazu gibt es ein lustige kleine Geschichte zu erzählen: Am Tag nach unserer Ankunft aßen wir das erste Mal dort zu Mittag. Die Küche befindet sich an der Rückseite des Hauses, das, wie die meisten Häuser bei mir zuhause in Deutschland auch, in den Hang gebaut ist. Deshalb ist das Erdgeschoss auf der Vorderseite ebenerdig und liegt auf der Rückseite ein Stockwerk über dem Boden. Dort befindet sich eine Art überdachter Balkon mit halbhoher Mauer auf den darunterliegenden Garten hinaus und auf diesem Balkon ist die Küche eingerichtet. Ihr hervorstechendstes Merkmal ist ein meterlanger Holztisch, der fast die ganze Länge des Balkons einnimmt. Schon am Abend zuvor dachte ich bei diesem Anblick, dass der Hausherr bestimmt gerne viele Leute zum Essen einlädt, glaubte allerdings nicht, dass ich diesen Tisch einmal voll sehen würde.

An besagtem Tag halfen wir der Mutter beim Kochen des Mittagessens und als ich sah, welche großen Mengen gekocht wurden, sagte ich lachend, dass das bestimmt für die ganze Stadt reichen würde. Gedacht habe ich mir allerdings nicht viel dabei. Dass mit dem Essen heillos übertrieben wird, wenn Gäste da sind und außerdem viele verschiedene Gerichte zubereitet werden, ist  hier nicht wirklich ungewöhnlich. Typisch brasilianisch würde ich es allerdings nicht nennen, da dieses Phänomen auch in Deutschland durchaus bekannt ist (an dieser Stelle herzliche Grüße an meine Oma). Der riesige Topf mit Reis hätte mich schon stutzig machen können, aber da die Hausherrin uns bei unserer Ankunft am Vortag schon mit vier Kuchen, Suppe und Brot erwartet hatte, ging ich davon aus, dass das für sie normal wäre. Wenig später erhielt ich dann aber die Erklärung für das viele Essen. Ich hatte die Küche für einige Zeit verlassen und als ich wiederkam, war der Tisch gedeckt. Der ganze Tisch, mit Platz für ungefähr 20 Personen. Und wenig später war er auch komplett besetzt mit diversen Verwandten und Freunden der Familie und uns natürlich. Vielleicht wird das Ganze dadurch etwas relativieren, dass es sich um den Karfreitag handelte. Ich habe aber das Gefühl, dass ich ein typisches Ereignis im Haus unserer Gastgeber beobachtet habe.

Saudade oder Was bedeutet Familie?

Während meines Aufenthalts in Palmácia habe ich über eine Sache besonders viel nachgedacht. Der Stellenwert von Familie in der brasilianischen Kultur beschäftigt mich schon das ganze Jahr über, aber das Kennenlernen dieser Familie hat mir noch einmal viele Denkanstöße gegeben.

Familie hier ist anders als in Deutschland, das ist mir schon lange klar. Nicht in allen, aber in vielen Fällen, die ich hier erlebt habe, ist es so: Die Kinder ziehen nicht aus, sobald sie 18 werden, sondern wohnen zuhause bis sie selbst eine Familie gründen. Wenn sie doch aus dem Elternhaus wegmüssen, weil es ihr Wunsch-Studienfach in ihrer Stadt nicht gibt, dann ist die Trennung eine große emotionale Belastung sowohl für die Eltern als auch für das Kind, selbst wenn es sich nur um eine zweistündige Fahrt handelt. Das jemand allein lebt, kommt so gut wie gar nicht vor.

Das brasilianische Wort für „Heimweh, Sehnsucht“ lautet „saudade“, aber es bedeutet mehr als das. Weil Trennung von den Lieben sich für die Menschen hier anders anfühlt als für uns. Ich lebe schon seit acht Monaten hier und beginne erst jetzt langsam zu begreifen, wie anders. Ob ich es jemals richtig verstehen werde, weiß ich nicht. Lange Zeit habe ich nicht begriffen, warum ich so oft gefragt werde „Tem muita saudade?“ („Hast du viel Sehnsucht nach zuhause?“) und „Fica aqui até quando?“ („Bis wannn bleibst du noch hier?). Warum würden mich die Leute ständig an den Abschied erinnern und das Heimweh geradezu heraufbeschwören wollen? Bis ich begriffen habe, dass diese Fragen für sie etwas ganz anderes bedeuten als für mich. Sie fragen mich das, weil sie glauben, dass ich die Monate bis zur Rückkehr nach Deutschland zähle und mir mein Zuhause ständig fehlt.

Dieses Wissen führt dazu, dass ich mich sehr unwohl fühle, wenn ich mal wieder eine solche Frage beantworten muss, weil ich bis heute keinen Weg gefunden habe, die Kommunikation in dieser Situation gelingen zu lassen. Egal wie ich antworte, mein Gesprächspartner wird es auf Grundlage seines Verständnisses interpretieren und deshalb etwas anderes verstehen, als ich eigentlich gemeint habe. Ich kann ihnen nicht verständlich machen, wie anders mein Empfinden dieser Dinge ist. Irgendwo logisch, da noch nicht einmal ich ihr Empfinden wirklich verstehe, trotz der Zeit, die ich schon unter ihnen lebe.

Die Familie der Freundin meines Gastbruders, die wir in Palmácia besucht haben, hat mich mein Bild von Familie daher einmal mehr in Frage stellen lassen. Die Oma zum Beispiel, die wir natürlich auch kennengelernt haben.  Für  sie ist ihre Familie alles. Drei ihrer Kinder wohnen in direkter Nachbarschaft zu ihr auf demselben Grundstück. Bei meinem Anblick bekam sie jedes Mal Tränen in die Augen, weil sie daran denken musste, wie weit ich von meiner Familie weg bin. Oder ihre Tochter, die Mutter der Freundin meines Gastbruders. Ich weiß nicht, wie oft sie in den paar Tagen darüber gesprochen hat, wie weit weg doch Parnaíba ist, wo ihre Tochter mit meinem Gastbruder studiert. Dann hat sie die Entfernung mit der zwischen Deutschland und Brasilien verglichen und das Mitleid mit meinen Eltern stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Aber das ist nicht alles, was hier an Familie anders ist. Ganz allgemein sind in der brasilianischen Kultur harmonische Beziehungen sehr wichtig und für Familien gilt das noch mal ganz besonders. Und um diese Harmonie aufrecht zu erhalten, ist in der Dynamik brasilianischer Familie einiges anders als ich es von Deutschland gewohnt bin. Etwa werden schlechte Angewohnheiten viel bereitwilliger toleriert und eigene Wünsche häufiger zurückgestellt, um Rücksicht auf andere zu nehmen. Auch in der Kommunikation drückt sich dieses Harmoniebedürfnis aus. Statt auch die kleinste Meinungsverschiedenheit, wie etwa die Frage nach dem kürzesten Weg, bis ins letzte auszudiskutieren, ist es eher üblich, dass einer einfach dem anderen Recht gibt, sobald das Gespräch in eine Konfrontation auszuufern droht. Beiden ist klar, dass der Nachgebende trotzdem noch von seiner Meinung überzeugt ist, aber in dieser Situation stellt er sie eben hintenan und überlässt dem anderen das Feld, ohne ihm im Stillen dafür zu grollen. Das mag für deutsche Ohren unehrlich und hintenrum klingen, aber so funktioniert brasilianische Diplomatie. In der Familie sind es meistens die Kinder, die ihren Eltern nachgeben, denn Respekt vor den Eltern ist ebenfalls sehr wichtig. Dass Kinder schlecht über ihre Eltern reden oder mit ihnen streiten, kommt zwar natürlich vor, ist aber eher verpönt. Wie meine Gastmutter es einmal gegenüber meinen Gastgeschwistern formuliert hat: Wir mögen vielleicht nicht die perfekten Eltern sein, aber wir sind die einzigen, die ihr habt. Darum solltet ihr dankbar für uns sein, anstatt uns zu kritisieren. Und das bringt es so ziemlich auf den Punkt.

 

Die Apae

Gelände vor der Apae

Seit meinem letzten Rundbrief hat das neue Schuljahr angefangen und ich bin nun sehr viel intensiver in den Schulbetrieb eingebunden. Laut meinem neuen Stundenplan begleite ich morgens zwei Lehrerinnen, jede für jeweils zwei Stunden. Dabei werde ich in Klassen geschickt, in denen besonders viele (also drei bis vier) oder besonders schwierige Schüler sind. Ich begleite also die Lehrerinnen, die am ehesten Unterstützung gebrauchen können. Man kann sich vorstellen, dass das manchmal sehr anstrengend ist.

Donnerstagsmorgens bin ich mit einer anderen Freiwilligen, die von hier stammt und ein paar Mal die Woche in der Apae aushilft, für die „Intercalados“ zuständig. Das sind diejenigen Schüler, die gerade keinen Unterricht haben. Da wir eine Förderschule sind, die ihre Schüler möglichst individuell betreuen will, haben unsere Schüler keinen durchgängigen Unterricht in großen Klassen, sondern zweimal die Woche zwei Stunden in einer kleinen Gruppe. Viele kommen aber mit dem Bus und sind deshalb trotzdem die ganzen vier Stunden Unterrichtszeit in der Apae, bis der Bus sie wieder abholt. Damit sie in dieser restlichen Zeit nicht sich selbst überlassen sind, werden sie alle zusammen in einer Gruppe betreut und es wird gespielt, gemalt oder gebastelt. Da geht es dann meistens etwas chaotischer zu, da in dieser Gruppe sehr viel mehr Schüler auf einmal zusammenkommen als in den Klassen und es schwierig ist, alle gleichzeitig im Auge zu behalten und zu beschäftigen.

Gruppenbild bei der Sozialaktion eines Motorradclubs in der Apae

Nachmittags ist es etwas ruhiger, da bin ich meistens im Sekretariat und erledige kleine Aufgaben für die Sekretärin und für meine Gastmutter, die ja seit Januar pädagogische Koordinatorin der Apae ist. Im Grunde ist es dasselbe, was ich schon während der Anmeldungen für das neue Schuljahr gemacht habe, nur das ich mich jetzt schon besser auskenne. Einmal die Woche darf ich eine unserer Sozialarbeiterinnen bei ihrer Arbeit begleiten, was ich mir schon lange gewünscht habe. Momentan beschränkt sich meine Aufgabe dabei zwar auf hinterherlaufen und beobachten, aber so ist das nun mal am Anfang. Auf jeden Fall habe ich so endlich die Möglichkeit, auch den Betrieb im Gesundheitszentrum der Apae kennenzulernen, da die Sozialarbeiterinnen dort tätig sind.

Manchmal kann ich auch einer Psychopädagogin bei ihren Sitzungen über die Schulter schauen. Sie kommt einmal alle zwei Wochen aus Teresina und hat Sitzungen mit Schülern oder Patienten des Gesundheitsbereichs. Sie stellt  Diagnosen über Art und Ausmaß einer Lernschwäche oder geistigen Behinderung, entwickelt Lernstrategien für die Lehrer und gibt Empfehlungen an die Eltern, wie sie am besten mit der Beeinträchtigung ihres Kindes umgehen können.

Feier zum Tag des Kinderbuchs und zum Tag der Indianer in der Apae

Das ist also mein eigentlicher Stundenplan. Wie für die hiesige Mentalität üblich, wird er aber immer wieder von aktuellen Ereignissen spontan über den Haufen geworfen. Momentan zum Beispiel bereiten wir das „Festa Junina“ (das Junifest) vor. Das ist ein traditionelles Erntedank-Fest, das zum Ende der Regenzeit im Juni gefeiert wird. In der Apae wird das Festa Junina in zwei Wochen als große öffentliche Veranstaltung gefeiert, die wir schon den ganzen Monat lang intensiv vorbereiten. Deshalb werde ich in den letzten Wochen häufig von meinen eigentlichen Aufgaben abgezogen, um hier oder da auszuhelfen, Deko zu basteln, Essens- und Getränkebons auszuschneiden oder beim Einstudieren der Tänze mit den Schülern zu assistieren.

Dadurch wird die Arbeit zwar nie langweilig, aber gerade in der letzten Zeit wünsche ich mir manchmal, bald wieder zu meinem normalen Stundenplan übergehen zu können. Denn ich will so viel wie möglich von der verbleibenden Zeit in meinem Projekt mit den Schülern verbringen, die ich im Verlauf der letzten Monate wie eine zweite Familie liebgewonnen habe.

Besser oder schlechter?

Vor kurzem ist mir etwas Kurioses untergekommen. Eine Art zu reden, die etwa so klingt: Also diese Gastfreundschaft hier ist ja wirklich toll, sowas gibt’s bei uns gar nicht. Da sind die Brasilianer uns Deutschen echt voraus. Und die Freundlichkeit! Alle grüßen auf der Straße und lächeln einen an, da könnten wir uns in Deutschland eine Scheibe von abschneiden.

Diese Sätze haben mich irritiert. Ich habe viel darüber nachgedacht und habe für mich persönlich –weder zwangsläufig zutreffend, noch allgemeingültig –  folgende Erklärung dafür gefunden: Hinter diesen Sätzen steht eine Denkweise, die vermutlich sogar unbewusst Deutschland und Brasilien miteinander vergleicht, in verschiedenen Kategorien bewertet und letztendlich auf einer Rangliste platziert. Und während Brasilien in Kategorien wie „Wohlstand“, „Bildung“ und „Sicherheit“ im Vergleich mit Deutschland nur verlieren kann, wird dann eben die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit und das Miteinander in den Himmel gelobt und als „besser“ dargestellt.

Aber kann eine Kultur wirklich besser sein als die andere? Ist es nicht vielmehr so, dass jeder von uns sich seine Werte selbst wählen muss und es kein besser oder schlechter gibt? Der eine bevorzugt Harmonie, der andere schonungslose Ehrlichkeit. Einer ist eher für Gemeinschaft, dem anderen geht seine individuelle Freiheit über alles. Ja, man kann die Länder der Welt auf eine Rangliste setzen, wenn man Kategorien wie Wirtschaftsleistung, Infrastruktur oder Pro-Kopf-Einkommen anlegt. Aber nichts davon ist relevant für eine respektvolle Begegnung zwischen verschiedenen Nationalitäten und Kulturen. Wir können niemanden danach beurteilen, in welche Verhältnisse er hineingeboren ist. Aber wir können seinen Werten Respekt entgegen bringen und dafür müssen wir nicht einmal unsere eigenen abwerten. Denn etwas kann anders sein ohne in besser und schlechter eingeteilt zu werden.

Also: Es besteht durchaus Grund dazu, die Brasilianer für ihre kaputten Straßen zu bemitleiden, denn sie sind kaputt. Es besteht aber absolut kein Grund dazu, hinzuzufügen:  Aber wenigstens beim harmonischen Familienleben haben sie es besser als wir Deutschen.

Wenn ich mein eigenes Verhalten mehr an brasilianischen Werten orientieren will, dann ist das meine Sache. Aber ich kann nicht universell für alle entscheiden, dass Nachgeben der Harmonie willen besser ist als in einer Diskussion Meinungen auszutauschen. Es steht mir nicht zu, ein derartig allgemeines  Urteil zu fällen. Ich will, für mich persönlich jedenfalls, mein Möglichstes versuchen, um dieses Kategorien-Denken aufzugeben und stattdessen der Akzeptanz von Anderssein eine Chance zu geben.

Das war’s erst mal wieder von mir. Ich hoffe, ich habe euch mit meinem moralischen Appell jetzt nicht verschreckt und bitte schon mal vorsorglich alle um Verzeihung, die sich davon angegriffen fühlen. Das ist einfach ein Thema, das mich momentan sehr beschäftigt, deshalb will ich meine Gedanken darüber mit euch teilen. Ihr müsst keineswegs mit mir einer Meinung sein, ich würde mich einfach freuen, wenn ihr ein bisschen darüber nachdenkt.

Bei Fragen und Anregungen stehe ich unter teichmann.kim@web.de gerne zur Verfügung und auch ansonsten freue ich mich immer von euch zu hören.

Liebe Grüße aus Piripiri,

Kim