Lieber Solidaritätskreis, liebe Familie, liebe Freunde und Unterstützer,

ja, die Stadt in der ich hier lebe, hat nicht umsonst den gleichen Namen wie eine Chillisorte. Es ist heiß. Aber davon später mehr. Zunächst einmal kann ich kaum fassen, dass ich tatsächlich schon meinen ersten Rundbrief schreibe, denn das bedeutet, ich bin jetzt schon zwei Monate in Brasilien. Die Zeit kommt mir gleichzeitig viel länger und viel kürzer vor. Länger, weil ich mich manchmal an Ereignisse vom Anfang meiner Zeit hier erinnere und dann daran denke, wie viele andere Dinge seitdem schon passiert sind und weil ich das Gefühl habe manches schon tausendmal gemacht zu haben. Und kürzer, weil mir immer noch ständig Neues begegnet, es noch so viele Dinge gibt, die ich noch nicht gemacht habe und sich immer noch kein endgültiger Alltag für mich etabliert hat.

Bevor ich nun anfange, von meinem Leben hier zu erzählen, möchte ich euch darum bitten, Folgendes zu beachten: Meine Schilderungen der Gewohnheiten und Mentalitäten, die mir hier begegnen, beziehen sich nicht auf „die Brasilianer“. Brasilien ist unglaublich groß, 24-mal so groß wie Deutschland, und es ist unmöglich, dass ich in nur einem Jahr alle Facetten dieses riesigen Landes kennen lernen kann, geschweige denn alle seine 207 Mio. Einwohner. Ich kann euch also nur von Piripiri und den Menschen, die mir hier begegnen, erzählen.

Bitte seht mir nach, dass ich das so flapsig betone, aber es ist mir einfach wichtig, weil Verallgemeinerungen für die betroffenen Menschen sehr verletzend sein können, Vorurteile begünstigen und einfach, auch unbeabsichtigt und wider besseres Wissen, zu oft passieren.

Blick auf den Hof hinterm Haus meiner Gastfamilie

 

Die Ankunft

Vor über zwei Monaten bin ich also in Brasilien angekommen, am Flughafen in Fortaleza, zusammen mit meinen Mitfreiwilligen Max und Angela. Beim ersten Schritt aus dem Flughafen heraus hat uns die Hitze erstmal wie ein Schlag getroffen, obwohl es Nacht war. Inzwischen habe ich mich an die Temperaturen gewöhnt, soweit das eben möglich ist. Nach einer Nacht im Hotel sind wir am nächsten Morgen mit Bussen weitergefahren, Angela nach Parnaíba, Max und ich nach Piripiri, wo Max abgeholt und nach Pedro II (gesprochen: Pedro Segundo) weitergefahren wurde. Auf der achtstündigen Busfahrt hatten wir ausreichend Gelegenheit, die unbekannte Landschaft zu betrachten. Dieser Anblick hat mir stark verdeutlicht, dass ich jetzt tatsächlich auf einem anderen Kontinent bin, weiter weg von Deutschland, als ich jemals zuvor war und quasi ins Ungewisse fahre. Ich wusste noch nicht einmal genau, wer mich am Bahnhof von Piripiri erwarten würde, ob meine Gastfamilie da wäre, um mich abzuholen und ob sie überhaupt die genaue Uhrzeit meiner Ankunft  wissen. Aber darum hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen. Als Max und ich in Piripiri aus dem Bus stiegen, warteten meine Gastmutter und meine Gastschwestern mitsamt meiner zukünftigen Chefin, deren Neffen und einer Freundin meiner Gastschwestern schon darauf, uns überschwänglich und mit vielen Umarmungen zu begrüßen.

Hier ein Foto von unserem Empfang am Bahnhof von Piripiri

Ein bisschen beängstigend war das schon alles, denn in diesem Moment wurde mir klar, wie absolut unzureichend meine Portugiesischkenntnisse sind, denn wir wurden direkt von mehreren Seiten mit Fragen und Willkommensgrüßen bestürmt, von denen ich kaum ein Wort verstanden habe. Zusammen mit den Umarmungen und den vielen unbekannten Menschen ein ziemliches Chaos, aber eins der fröhlichen Art und ein Beweis für die große Gastfreundschaft, die ich hier erlebe.

Das Willkommen-Heißen und die Gastfreundschaft gehören nämlich zu den Dingen, die ich als sehr typisch für die Menschen hier empfinde. Wenn ich mit meiner Gastmutter auf der Straße unterwegs bin, hält sie oft Pläuschchen mit Bekannten, Verwandten  oder den Verkäufern in den Geschäften, und wenn sie mich vorstellt, höre ich fast jedes Mal ‚Seja bem vinda – Sei herzlich Willkommen‘ von diesen mir fremden Menschen. Und noch viel beeindruckender finde ich es, wie viele Menschen mir hier bereitwillig ihre Häuser öffnen, mich bei sich aufnehmen und für die Zeit meines Besuches wie ein Familienmitglied behandeln.

Auf den kurzen Reisen, die ich bis jetzt gemacht habe, ist mir diese Gastfreundschaft in solchem Überfluss begegnet, dass ich zeitweise ganz überwältigt davon war und mich gefragt habe, womit ich das verdient habe. Denn ich empfange hier so viel, mir wird so viel gegeben. Menschen, die mich aufnehmen, die mir helfen mich zurecht zu finden und geduldig mit mir kommunizieren, obwohl ich ihre Sprache bisher nur schlecht beherrsche. Und ich habe das Gefühl, dass ich ihnen nicht viel im Gegenzug anbieten kann. Also kann ich nur annehmen, was mir geschenkt wird und dankbar dafür sein.

Meine Projektstelle

Herzlich aufgenommen wurde ich auch in meiner Projektstelle, der Apae. Wie man auf dem Bild erkennen kann, haben sich Schüler und Lehrer viel einfallen lassen, um mich an meinem ersten Arbeitstag willkommen zu heißen, ein richtiges Empfangskomitee.

Gruppenfoto mit Schülern und Lehrern der Apae, die deutsche und brasilianische
Flaggen und ein Willkommensschild halten und mich begrüßen

Die Apae in Piripiri ist eine Einrichtung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung. Sie gehört zur Vereinigung der Apaes in Brasilien, was mit der Lebenshilfe in Deutschland vergleichbar ist. Sie besteht aus einem schulischen Bereich, in dem die Schüler Nachhilfe für ihren normalen Schulunterricht bekommen, bzw. Grundlagen wie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, und einem gesundheitlichen Bereich mit Physiotherapie usw.

Momentan arbeite ich dort von Montag bis Donnerstag vormittags. Das klingt jetzt ziemlich wenig, aber für die Anfangszeit ist es durchaus angemessen, weil es mir die Gelegenheit gegeben hat, mich an das Wetter zu gewöhnen und mich nachmittags, wenn die größte Hitze herrscht, auszuruhen, worüber ich wirklich froh bin.

Blick auf den seitlichen Hof der Apae

Im Moment arbeite ich ausschließlich im pädagogischen Bereich. Ich begleite verschiedene Lehrerinnen bei ihren Stunden und unterstütze sie im Unterricht. Das sieht dann so aus, dass ich einem oder zwei Schülern bei ihren Übungen helfe, Aufgaben in die Hefte schreibe, Ausmalbilder zeichne oder mir selbst Übungen ausdenke. Die Klassen bestehen in der Regel aus zwei bis vier Schülern, was eine nahe Betreuung möglich macht. Manchmal bin ich auch bei einer größeren Gruppe dabei und wir spielen, puzzeln oder basteln.

Gruppenbild mit Schülern und Lehrern im Versammlungsraum der Apae

Die Arbeit macht mir viel Spaß und ich habe mich in der Apae vom ersten Moment an sehr wohlgefühlt, sodass ich mich freue, ab November etwas mehr zu arbeiten und wahrscheinlich auch schon in den gesundheitlichen Bereich hinein zu schnuppern.

Veränderungen

Das Leben ist anders – diesen Satz habe ich hundertmal auf den Flyern von SoFiA gelesen. Aber irgendwie waren es immer recht leere Worte für mich. Anders, okay. Aber anders als was denn? Doch seit ich hier bin, bedeuten diese Worte etwas für mich. Denn das Leben hier ist tatsächlich anders, in so unendlich vielen verschiedenen Aspekten, dass ich sie manchmal selbst nicht richtig begreifen kann.

Da sind die einfachen, offensichtlichen Unterschiede. Zum Beispiel das Essen. Unbekanntes Obst und Gemüse, anderes Brot, viele Speisen aus Maniokmehl, selbstgemachte Säfte und süßer Kaffee und vor allem: Reis und Bohnen jeden Tag. Das sieht man direkt, das Essen hier ist eben anders. Zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, aber inzwischen mag ich es sehr gerne und merke, wie es jeden Tag selbstverständlicher für mich wird.

Auch anders: Das Stadtbild mit den vielen kleinen Läden, den oft ruckeligen Straßen, den vielen Motos (eine Art Mischung aus Motorrad und Mofa) und dem aus meiner Sicht chaotischen Verkehr ist am Anfang einfach ein ungewohnter Anblick, wird aber mit jedem Tag normaler, genauso wie die nach vielen Seiten offenen Häusern mit ihren Höfen, die oft keine Decken haben, sondern zum Dach hin offen sind, um die Hitze entweichen zu lassen.

Dann ist da noch meine Gastfamilie, mit meinen Gasteltern und meinen drei Gastschwestern, in der ich meinen Platz finden, deren Dynamik ich verstehen lernen muss und die ich langsam von immer mehr Seiten kennenlerne, während wir jeden Tag ein Stückchen mehr zusammenwachsen.

Andere Veränderungen sind schwieriger zu verarbeiten. Eine davon ist die Hitze, die noch immer eine Herausforderung für mich darstellt. Piripiri ist, wie mir jeder Einzelne, mit dem ich darüber gesprochen habe, versichert hat, nach der Hauptstadt Teresina der zweitheißeste Ort im Bundesstaat Piaui und momentan haben wir die heißeste Zeit des Jahres. Das bedeutet nichts anderes, als dass fünf Minuten in der Mittagssonne ausreichen, um einen brutzeln zu lassen und die Temperaturen auch nachts nicht weit unter 30°C sinken. Deshalb habe ich mich den Gewohnheiten meiner Gastfamilie angeschlossen und dusche bis zu dreimal am Tag. Dennoch schwitze ich fast ständig, was auf die Dauer sehr unangenehm ist, und manchmal vermisse ich aus tiefsten Herzen das Gefühl trocken zu sein und eine angenehme Wärme zu spüren, eine, bei der man nicht schwitzt, sondern sich einkuschelt wie vor einer warmen Heizung im Winter.

Die Hitze bringt auch noch andere körperliche Veränderungen mit sich: Wenig Appetit beim Mittagessen, Müdigkeit und Schlafprobleme, die ich noch nie in meinem Leben hatte. Aber auch hier gilt, langsam aber sicher gewöhne ich mich daran. Und außerdem beginnt im Dezember die Regenzeit, die Abkühlung mit sich bringen wird. Das habe ich bei den drei, vier stärkeren Regen, die es bisher gab, schon gemerkt. Die Temperaturen sinken dann fühlbar ab und ein kühler Wind weht, was wir alle sehr genießen. Heute Nachmittag gab es einen solchen Regen, und meine Gastschwester meinte, dass sie sich so ein angenehmes Wetter am meisten für ihren Geburtstag morgen gewünscht hat. In Deutschland dagegen ist Regenwetter am Geburtstag so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Klar, warum das so ist, aber schon lustig, oder?

Meine Gastmutter und ich in der Kirche

Noch mehr Schwierigkeiten als die Hitze bereitet mir allerdings der bisherige Mangel an Selbstständigkeit, den ich hier erfahren muss. Dieser ist zum einen dadurch bedingt, dass ich mich in der Stadt nicht gut auskenne, die Sprache noch nicht gut spreche, nicht viele Leute kenne und auch sonst vieles nicht weiß oder nicht kenne. In dieser Hinsicht lässt die Unselbstständigkeit etwas nach, je mehr sich meine Kenntnis dieser Dinge verbessert. Aber trotzdem kann ich eigentlich nichts alleine machen, weil es nicht unbedingt sicher ist, allein auf der Straße unterwegs zu sein, und im Dunkeln, also nach 18 Uhr, schon gar nicht. Das ist ziemlich frustrierend für mich, da ich daran gewöhnt bin, unabhängig und selbstständig zu sein und auch, wenn ich nicht hier wäre, jetzt von zuhause ausgezogen und allein zum Studium in eine fremde Stadt gegangen wäre.

Und dann gibt es da noch eine andere Art von Unterschieden. Eine Art, die ich nicht gleich als Unterschiede erkennen kann, weil die Dinge, die ich sehe, nicht unbekannt sind, allerdings in einem anderen kulturellen Kontext eine andere Bedeutung haben. Denn wenn eine Person zu mir sagt „Du brauchst ein paar Dinge? Okay, dann gehen wir morgen einkaufen“, dann bedeutet das für mich in meinem deutschen kulturellen Kontext, dass das abgemacht und sicher ist. Und wenn dann irgendetwas dazwischen kommt, ich die Person noch dreimal daran erinnern muss und wir letztendlich erst eine Woche später einkaufen gehen, dann ist das in meiner Wahrnehmung unzuverlässig und ich ärgere mich über die Person. Aber das verdient sie eigentlich nicht, denn in ihrem kulturellen Kontext bedeutet ihre Zusage mehr, dass sie prinzipiell bereit ist, mit mir einkaufen zu gehen, wenn es gerade passt. Und vielleicht geht sie im Moment ihrer Aussage auch davon aus, dass es morgen passt, aber wenn es das dann doch nicht tut, ist es auch nicht schlimm.

Diesen Unterschied zu erkennen ist nicht so leicht, weil ich erst meinen Ärger überwinden, mir die guten Absichten der Person ins Gedächtnis rufen und überlegen muss, warum sie dann so handelt.

Mit dieser Art von Unterschieden habe ich mitunter die größten Schwierigkeiten, auch was Berührungen und die Art zu Reden angeht. Selbst jetzt, wo ich vieles besser verstehe, ist es nicht immer einfach, denn auch wenn ich weiß, was etwas bedeutet, kann es sich trotzdem anders anfühlen, weil meine ‚deutsche‘ Deutung tiefer in mir verwurzelt ist. Ich schätze, so etwas nennt man einen Kulturschock.

Ich fürchte, das alles klang jetzt doch recht negativ. Aber das ist es eigentlich gar nicht. Ich sehe es vielmehr als wertvollste Erfahrung, die ich überhaupt machen könnte. Denn wenn alles einfach wäre, würde ich nicht halb so viel dabei lernen. Und außerdem gibt es da noch eine Veränderung, die ich an mir selbst bemerke. Manchmal, wenn wir auf der Straße an etwas vorbeifahren, was vor ein paar Wochen noch unbekannt war und jetzt schon so vertraut ist, dann spüre ich in mir den Anflug eines Gefühls, das sagt ‚Ich fühle mich hier zu Hause‘. Und dieses Gefühl beflügelt mich umso mehr, als es trotz der Schwierigkeiten entsteht.

Meine Gastschwestern, meine Gastmutter und ich beim Patronatsfest
der größten Kirche in Piripiri, Nossa Senhora dos Remédios

Jetzt ist mein Rundbrief doch viel länger geworden, als ich beabsichtigt habe und trotzdem konnte ich nicht über alles schreiben, was ich mir vorgenommen hatte. Und ich fürchte, das wird mit den nächsten Rundbriefen auch nicht besser werden. Trotzdem freue ich mich darauf, euch circa zum Jahreswechsel erneut von meinem Leben in Brasilien erzählen zu dürfen. Und falls ihr irgendwelche Fragen oder Anliegen habt, könnt ihr mir jederzeit gerne schreiben.

Liebe Grüße aus dem sonnigen und heißen Piripiri,

Kim